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Montag, 4. Januar 2016

Kapitel 27


In diesem unübersichtlichen Labyrinth siegt am Rande des Sichtbaren der Mandant des Rätsels über den Regen. Das unausweichliche Darben verliert und gewinnt Hoffnung und fahles Verlangen im Wechsel. Hinter dem Papier und öfter noch hinter dem gespannten Stoff der Lautsprecher erscheint es beinahe und der Wunsch danach zu greifen, wehrt sich, vergessen zu werden. Marguet läuft im strömenden Regen zur Autowerkstatt. Ohne Hut und ohne Schirm. Eine Fehleinschätzung der Situation, wie sich herausstellt, denn es regnet heftig und zu Fuß ist die Strecke von der Wohnung zur Werkstatt weiter als gedacht. Durchnässt wirkt das blasse Licht der verglasten Filiale wärmend auf Marguet. Ich würde gerne mein Auto holen, ihr habt mich angerufen. Es dauert nicht lange. Marguet weiß den vertrauten Fahrersitz neu zu schätzen. Aber nur kurz.

Zurück im Arbeitszimmer nimmt er die Recherche wieder auf. Das aufgeschlagene Pompeji-Buch, die Tim&Struppi-Sammelbände, Camus‘ Biografie, die Sternkarte und der Sternatlas, diverse Essays über Apollinisch-Dyonisische Polarität – wo war er stehengeblieben... Was ihm an diesem Film gefallen hat, war die Tatsache, dass Humpty-Dumpty und der gestiefelte Kater wie selbstverständlich im gleichen Setting existieren. Auch wenn er Lewis Carrolls Wunderland und das Land hinter den Spiegeln bevorzugt, ist es auch bei Peter Pan diese Koexistenz der verschiedenen Kosmen, die ihm am meisten zusagt. Auf Pans Insel ist neben ihm, der die Tür zur griechischen Mythologie öffnet, eine Meerjungfrauenbucht, ein Indianerdorf, der Dschungel, in dem die verlorenen Jungs hausen, ein Piratenschiff beheimatet. Alles kontrahiert mit dem London der Kinder, das dem Sherlock Holmes‘ ähnelt. Von London aus betreten auch die Protagonisten aus Mary Poppins ihre Gegenwelt, über eine  Kreidezeichnung auf dem Pflaster. Der Übergang durch ein Bild erscheint logisch und ist geradezu programmatisch anschaulich, alle anderen Formen waren für Marguet jedoch weitaus magischer: der Fall durch den Kaninchenbau verdeutlicht herrlich den Eintritt ins Unterbewusste, Der Schritt durch den Spiegel ist komplex und assoziativ offen, Pan verleitet die Kinder zum Flug über die Wolken und nach verlorener Orientierung taucht man daraus hervor. Der Verlust der Orientierung scheint wesentlich zu sein. Ähnlich wie Odysseus, der von Poseidon in unbekannte Meere verschlagen wird, gehen auch Alice, Pinoccio, Gulliver und der vom Wirbelsturm nach Oz getragenen Dorothy jegliches Gefühl dafür abhanden, ob man sich in einem anderen Land, einer anderen Zeit, auf einem anderen Planeten oder gänzlich im Traum bzw. gar im Tode befindet. Wenn man ins Schattenreich des Hades eintritt wie Orpheus oder Dante, ist die magische Gegenwelt verortet, was ihr aber durch die Unmöglichkeit des Ortes keinen Zauber nimmt. Ebenso verortet und stets wundervoll ist der Mond als Schauplatz von Traumszenarien Peter und Liese aus Peterchens Mondfahrt gelangen dort hin, um das verlorene Maikäferbeinchen zurück zu erlangen, Münchhausen war natürlich dort, einmal von Terry Gilliam geschickt, der seine Time Bandits ebenfalls dort hin entführt, Filmpioniere auf dem Mond sind aber Fritz Lang (Frau im Mond) und Meliés (Reise zum Mond), dessen Welt uns an den Mond Jules Vernes‘ denken lässt, inklusive Mondmenschen... Durch eine Handvoll Zauberbohnen kann man ebenfalls dorthin gelangen, erwächst daraus eine Bohnenranke, kann man daran hochklettern und über den Wolken das Schloß des Riesen finden. Über den Wolken hat auch mehrmals Hayao Miyazaki seine Gegenwelten angesiedelt, einmal gibt es da auch ein Schloss in den Wolken. Wie andere japanische Geschichtenerzähler scheint auch er eine Vorliebe für Aliceonaden zu haben. Chihiro betritt durch einen Tunnel eine verlassene Stadt, die erst bei Dämmerung zu leben beginnt. Eine Geisterwelt, wenn man so will. Hilfreich ist, dass japanische Geister und Götter gerne die gleichen Sphären teilen. Götterwelten könnten Ursprung einiger Utopia sein, vor allem der Olymp, der sich vom Berggipfel mehr und mehr in einen Wolkenthron verwandelt hat.

Um wie Odysseus verloren zu gehen, kann man auch ins Bermuda-Dreieck vorstoßen. Dort fallen Kompass und Navigationssysteme aus, der Kontakt zur Außenwelt bricht ab und ein Sturm verfinstert den nächtlichen Himmel, egal ob das Flugzeug oder das Schiff werden ihm zum Opfer. Mit dem Schiff kann man auch in einen undurchdringlichen Nebel geraten und die auf keiner Karte verzeichnete Insel King Kongs entdecken, auf der urzeitliche Riesentiere ihr Unwesen treiben, wie auch auf Jules Vernes‘ geheimnisvoller Insel, die Kapitän Nemo beherrscht.

Kapitel 1000



"Was mich interessieren würde..." sagte ich "... ist wie sich eure Musik anhört. Immerhin sind über 1000 Jahre vergangen seit meiner Zeit". Tepoolo blinzelte auf eine merkwürdige Art, womit er offensichtlich das Abspielen der Musik auslöste. Obwohl Musik nach meinen Hörgewohnheiten etwas völlig anderes war. Aus dem Raum, uneinordenbar aus welcher Entfernung, vernahm ich ein hochfrequntes staccatoartiges Piepsen. Für mich weder Rhythmus noch Ton erkennbar. Nach einer halben Minute ohne ersichtliche Änderung des Geräuschs, sagte ich: "Das scheint mir sehr speziell, kannst du mir etwas aus der populären Musik von heute zeigen?". "Ahh, ok." meinte Tepoolo "nicht gerne, aber ich mach's. Ich finde das Zeug nämlich schrecklich". Er blinzelte erneut. Mhhh. Was ich hörte, war für mich genau das selbe hochfrequente, staccatoartige Piepsen. Tepoolo schüttelte den Kopf.

Der Calder lenkte auf eine einige Meter tiefere Ebene und das Licht wechselte von gelblich-grün auf rot. 

"In meiner Zeit" begann ich "waren Zukunftsvisionen oft mit einer Form von totalitärem Staatssystem oder einer Herrschaft der Maschinen und Computer verbunden. Wie kommt es, dass ihr nichts davon habt - überhaupt keine Form von Regierung? Was hält die bürgerliche Ordnung aufrecht?". Tepoolo schaute mich verdutzt an. "Ich weiß es nicht. Es läuft alles wie's läuft. Diese Begriffe kenne ich aus meiner Geschichts-Introduktion, aber ich kann wirklich nicht viel damit anfangen. Wir haben gelernt, dass es damals Regierungen und Gesetze gab, aber ich kann mich nicht erinnern wozu." "Na ja,  z.B. um die individuellen Rechte zu schützen, nicht zuletzt die körperliche Unversehrtheit. Wie verhindert ihr Diebstahl, Gewalt und Mord, wenn es keine überwachenden Organe wie Polizei gibt?" "Das gibt's einfach alles nicht, es macht keiner. Es besteht kein Grund". 

Das gab mir zu Denken. Ist es möglich, dass es keinen Grund gibt jemand anderen zu beneiden, Groll gegen jemanden zu hegen. Sind alle Menschen und diese anderen denkenden Geschöpfe, die es hier gibt ständig zufrieden? 

"Von was handeln eure Filme und Romane, wenn es keinen Mord oder besser, keine Konflikte gibt?""Von Sehnsucht, unbestimmter Sehnsucht. Das ist seit ca. 400 Jahren das große Thema der Menschheit. Alle Institute, sämtliche Forschungsarbeit beschäftigt sich damit. Wir wollen Etwas, wissen aber nicht Was, und wir leiden darunter."

Aha. Zufrieden sind die Menschen offensichtlich in allen Dingen, die in meiner Zeit an der Tagesordnung waren: Gesundheit, Besitz, Komfort, Versorgung mit Nahrung, Wärme, Unterhaltung, Wissen, sogar Berühmtheit, wie ich mitbekommen habe. Jeder hier hat eine eigene Fangemeinde, die alle kreativen Erzeugnisse begutachtet und auswertet. Vom Witz der einem beim Schuhe anziehen einfällt, über Malerei und kleine Musikstücke (jetzt weiß ich leider wie diese sich anhören) bis zum großen Roman, den man über Jahre schreibt, wird alles gelesen, gehört, gesehen, ja sogar genossen. Denn da es keine Arbeit in unserm Verständnis mehr gibt, teilt sich das Leben in Rezeption, Forschung, kreatives Schaffen, partnerschaftliche Liebe und Zeit mit den Kindern auf. Einzig eine Sehnsucht bleibt. Wer hätte das gedacht.

"Damals prügelte man sich oft nach dem Genuss von Alkohol. Wie habt ihr das in den Griff bekommen?" "Oh, wir prügeln uns nach dem Genuss von Alkohol" "Und da geht nicht mal einer drauf?" "Nichts, was sich nicht im Hospitalkompier wieder hinbiegen lässt..."

"Was ist mit Macht über andere? Es kann nicht sein, dass niemand über einen Anderen bestimmen will, das ist ein menschliches Grundbedürfnis. Wenn einer was will und der andere nicht, z.B. im Fernsehen..." "Dann spielen wir Schnick, Schnack, Schnuck... Aber zur Macht, es gibt Leute, die mögen es, wenn jemand anders für sie entscheidet. Die suchen sich dann jemand Dominanten, da gibts Vermittlungsbörsen."
Unglaublich wie einfach das geht. Schon jetzt gefiel mir was an der Sache nicht. Ich hatte Lust den Calder in eins der Gebäude zu steuern, einfach so aus Fetz. Mal schauen was passiert. Eine Art Wunsch nach Sabotage packte mich. 

"Zeig mir was Großartiges!" sagte ich. Tepoolo grinste. "Na dann pass mal auf!". Wir bogen in eine strudelartige Auffahrt. Das Licht wechselte auf pink.

Samstag, 29. Mai 2010

Disco 3000




Der Junge findet in der verlassenen Villa eine Kiste mit einem Buch und einer Schallplatte und rennt damit nach Hause. Auf der Schallplatte stehen die mystischen Worte: Sun Ra und Disco 3000 und er legt sie auf. Während die Musik unauffällig, schräg und schief aus kaputten Instrumenten tönend ihren Anfang nimmt, öffnet er das schwarze Buch. Großformatige Fotografien. Der Kosmos. Eine Galaxie mit vielen Sternen, Monde werfen ihre Schatten auf Gasriesen, Metallfarbenes, roter Sand. Dann ägyptische Gottheiten, Inkapyramiden, Aztekenskulpturen. Dann Schwarze, in New York, 1950? 1970? Mit Saxophonen, mit Synthesizern, die tausende bunt leuchtende Knöpfe zieren, mit Masken, in Kostümen, in verrauchten Clubs. Nichts passt zusammen und doch passt alles zu dieser immer intensiver werdenden Musik. Ein Bild entsteht im Kopf des Jungen, innerhalb dieser wenigen Minuten, von einer Welt, die tausendmal größer und Millionen Jahre älter ist, als er bisher angenommen hatte. Diese Dinge konnte er sich nicht einmal vorstellen, noch hat er jemals von etwas Ähnlichem gehört. Er weiß diese Rätsel werden ihn bis an sein Lebensende beschäftigen und seine Vorfreude auf das was noch dazukommen mag ist kaum zu beschreiben.

Ein Erstkontakt mit Sun Ra ist tatsächlich wie die unheimliche Begegnung der dritten Art, das hat er geschafft. Das er wirklich vom Planeten Saturn kommt hat ihm dann doch keiner abgekauft. Das ganze unverständliche pseudo-religiöse, astrologisch-mythische Konzept verstehen zu wollen ist vollkommen unnötig, die ganze Sache so ernst zu nehmen schadet dem phantastischen Konstrukt dieses Jules-Vernes der Imagepflege, Gesamtkunstwerk und Pionier als Erfinder eines Bühnen-Alter Ego, bei dem man nicht genau weiß ob Sun Ra (geboren als Herman Blount) nicht glaubt er sei es wirklich.

Disco 3000 ist der Mitschnitt eines Konzerts in Italien, in Mailand, 1978. Sun Ra spielt Piano, Moog-Synthesizer und ein seltenes Crumar Mainman-Keyboard, John Gilmore quält sein Tenor-Saxophon, Michael Ray bläst Trompete und Luqma Ali wirbelt unnachgiebig die drums. Weitere Informationen würden das Bild zwar immer mehr mit assoziationsanregenden Details anreichern, für die Rezeption dieser Platte braucht man aber eigentlich nur Zeit (es handelt sich um ein Doppelalbum) und einen abgeschotteten Raum - damit niemand mit „Was zur Hölle...?“ das Verlassen dieses schnöden Planeten stört, denn das ist das Geschenk dises Albums: Nicht weniger als die Auflösung von Raum, Zeit und jeglicher Logik.